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BAG, Urteil vom 30.11.2021 – 9 AZR 143/21
Mitarbeiter*innen „verlieren“ Urlaubstage, wenn sie Ihren Arbeitgeber*innen ihre Schwerbehinderung nicht mitteilen.
Das Verfahren
Der schwerbehinderte Kläger war von August 2016 bis Februar 2019 bei der Beklagten beschäftigt. Vor seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis beantragte der Kläger im Januar 2019, ihm zwölf Arbeitstage Zusatzurlaub für seine Schwerbehinderung zu gewähren (zwei Tage für 2016 und jeweils fünf Tage für 2017 und 2018). Dem Urlaubsantrag fügte der Kläger eine Kopie seines Schwerbehindertenausweises bei.
Die Beklagte lehnte den Urlaub jedoch ab. Sie war der Meinung, dass der Urlaub des Klägers im Januar 2019 bereits verfallen war. § 7 Abs. 3 BUrlG sehe nämlich vor, dass Mitarbeiter*innen ihren gesetzlichen Urlaubsanspruch in dem Kalenderjahr nehmen müssten, in dem er entstanden ist.
Der Kläger erhob daraufhin zunächst eine Klage vor dem Arbeitsgericht Trier und beantragte – da das Arbeitsverhältnis zwischenzeitlich beendet war – die Beklagte zur Zahlung von Urlaubsabgeltung in Höhe von rund € 1.100,00 zu verurteilen. Er behauptete, die Beklagte bereits bei seiner Einstellung über seine Schwerbehinderung informiert zu haben. Darüber hinaus habe ihn die Beklagte weder aufgefordert, Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann – was unstreitig war.
Das Urteil
Der Kläger unterlag sowohl in der ersten Instanz vor dem Arbeitsgericht Trier als auch in der zweiten Instanz vor dem Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz. Da der Kläger jedoch auch gegen das Berufungsurteil Rechtsmittel einlegte, hatte schließlich das Bundesarbeitsgericht in der Angelegenheit zu entscheiden.
Das Bundesarbeitsgericht stellte zunächst fest, dass der Zusatzurlaub des Klägers unabhängig davon entstanden ist, ob die Beklagte von der Schwerbehinderung des Klägers Kenntnis hatte oder nicht. Die (vermeintliche) Kenntnis der Beklagten wirke sich aber an einer anderen Stelle aus. Grundsätzlich verfalle der Urlaubsanspruch von Arbeitnehmer*innen nämlich nur dann am Jahresende, wenn der/die Arbeitgeber*in über die bestehenden Urlaubstage sowie den Zeitpunkt des Verfalls informiert und dazu aufgefordert habe, den Urlaub zu nehmen:
„Dazu muss er den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt.“
Dies sei Arbeitgeber*innen in Bezug auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Arbeitnehmer*innen aber nur dann möglich, wenn sie Kenntnis von deren Schwerbehinderung hatten:
„Die Erfüllung dieser Obliegenheiten ist dem Arbeitgeber nicht möglich, wenn ihm die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht bekannt und diese auch nicht offenkundig ist. Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer in diesem Fall nicht entsprechend den gesetzlichen Vorgaben rechtzeitig und zutreffend über den Umfang und die Befristung des Urlaubsanspruchs unter Berücksichtigung der Schwerbehinderung unterrichten.“
Das Bundesarbeitsgericht hob das Urteil des Landesarbeitsgerichts aber trotzdem auf und verwies das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurück. Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht seien nämlich fälschlich davon ausgegangen, dass der Kläger die Kenntnis der Beklagten von seiner Schwerbehinderung beweisen müsse. Die Beweislast liege hingegen bei der Beklagten, wobei ihr aber die sogenannte abgestufte Beweislast zugutekomme.
Hinweise für die Praxis
Arbeitgeber*innen können zwei Punkte aus dem Urteil „mitnehmen“:
1.
Schwerbehinderte Arbeitnehmer*innen haben einen Anspruch von einer Woche Zusatzurlaub pro Kalenderjahr (fünf Tage Zusatzurlaub bei einer 5-Tage-Woche; vier Tage Zusatzurlaub bei einer 4-Tage-Woche usw.). Arbeitgeber*innen sind jedoch nicht verpflichtet, sich aktiv nach einer Schwerbehinderung zu erkundigen. Setzen die betroffenen Mitarbeiter*innen ihre Arbeitgeber*innen nicht über ihre Schwerbehinderung in Kenntnis, verfällt dieser Urlaubsanspruch daher automatisch nach Ablauf von 15 Monaten nach Ende des Jahres, in dem er entstanden ist.
2.
Ist es streitig, ob beziehungsweise seit wann Arbeitgebende Kenntnis von der Schwerbehinderung hatten, sind diese und nicht die Arbeitnehmenden beweisbelastet. Es gilt aber die sogenannte abgestufte Beweislast, das heißt es genügt zunächst, wenn der/die Arbeitgeber*in sich auf seine/ihre Unkenntnis beruft. Dann muss der/die Arbeitnehmer*in konkret darlegen, wann der/die Arbeitgeber*in Kenntnis erlangt haben soll und die ihm/ihr zur Verfügung stehenden Beweismittel benennen. Trägt der/die Arbeitnehmer*in nichts oder nicht substanziiert vor, gilt der Sachvortrag des/der Arbeitgebenden als zugestanden. Anderenfalls muss der/die Arbeitgeber*in seine/ihre Unkenntnis darlegen und beweisen. Gelingt es dem/der Arbeitgeber*in, den Vortrag des/der Arbeitnehmenden zu entkräften, ist der Beweis der Unkenntnis erbracht.
Die Arbeitsverhältnisse schwerbehinderter Arbeitnehmer*innen unterfallen – angefangen beim Bewerbungsverfahren bis hin zur Beendigung – einigen Besonderheiten. In unserem „Ratgeber Arbeitsrecht“ informieren wir Sie über die wichtigsten Regelungen. Oder rufen Sie uns an, wir unterstützen Sie bei allen Fragen des Arbeitsrechts.
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