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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.07.2021 – 5 AZR 543/20
Was stellen Arbeitgeber*Innen mit Arbeitnehmer*Innen an, die zwar zur Arbeit erscheinen und meinen, gesund zu sein, tatsächlich aber nicht in der Lage sind zu arbeiten?
Streit um die Arbeitsfähigkeit von Arbeitnehmer*Innen entbrennt beispielsweise in den Fällen, in denen Arbeitgeber*Innen eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung anzweifeln. Das Ziel auf Arbeitgeberseite ist dann, keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zahlen zu müssen. Über einen lesenswerten Fall, in dem es der Arbeitgeberin gelungen war, eine Entgeltfortzahlung abzuwenden, haben wir bereits berichtet [https://www.ra-wittig.de/urteile-arbeitsgericht/der-beweiswert-der-arbeitsunfaehigkeitsbescheinigung]. Nachgelagert zu der Frage der Arbeitsfähigkeit ist die Frage der Leistungsfähigkeit von Arbeitnehmer*Innen. Behaupten diese (zum Beispiel nach einer langen Erkrankung) wieder arbeitsfähig zu sein, haben Arbeitgeber*Innen hieran aber gravierende Zweifel, muss die Entscheidung getroffen werden, ob die angebotene Arbeitsleistung angenommen oder abgelehnt wird. Entscheiden sich Arbeitgeber*Innen in einer solchen Konstellation dazu, die Arbeitsleistung nicht anzunehmen, gehen sie das Risiko ein, zur Zahlung von Annahmeverzugslohn verurteilt zu werden. Doch müssen Arbeitgeber*Innen tatsächlich beweisen können, dass der/die Arbeitnehmer*In nicht leistungsfähig war?
Der Kläger war von Dezember 2015 bis August 2016 arbeitsunfähig erkrankt. Nach Durchführung eines Personalgesprächs Anfang August 2016 entschied sich die beklagte Arbeitgeberin, dem Kläger auch nach seiner „Genesung“ keine Arbeit zuzuweisen und stellte ihn zunächst bis einschließlich November 2016 unter Fortzahlung seiner Vergütung von der Arbeit frei. Zum 01.12.2016 stellte die Beklagte die Zahlungen dann aber doch ein, woraufhin der Kläger eine Klage vor dem Arbeitsgericht Berlin erhob und beantragte, die Beklagte zur Zahlung von Annahmeverzugslohn zu verurteilen. Und dann begann das „Ping-Pong“ der Gerichte: Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat der Klage in zweiter Instanz stattgegeben und dem Kläger den beantragten Annahmeverzugslohn zugesprochen. Das Bundesarbeitsgericht hat das Urteil auf die Beschwerde der Beklagten wieder aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage aber auch in der zweiten Runde stattgegeben, woraufhin die Beklagte Revision vor dem Bundesarbeitsgericht einlegte. Und eins vorweg:
Die Beklagte hatte mit ihrer Revision Erfolg. Das Bundesarbeitsgericht hat das Urteil des Landesarbeitsgerichts wieder aufgehoben – allerdings auch zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Es geht also weiter!
Das Bundesarbeitsgericht stellte zunächst klar, dass ein Anspruch auf Zahlung von Annahmeverzugslohn neben dem Leistungswillen des Klägers auch dessen Leistungsfähigkeit voraussetzt:
„Jedoch muss der Arbeitnehmer zur Erbringung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung fähig sein (…)“.
Die Beklagte, welche die Leistungsfähigkeit des Klägers in Abrede stelle, müsse auch – so das Landesarbeitsgericht noch korrekt – darlegen, warum von einer Leistungsunfähigkeit auszugehen sei. Dies bedeute aber nicht, dass die Beklagte die Leistungsunfähigkeit beweisen müsse! Es genüge vielmehr, wenn die Beklagte Tatsachen vortrage, die einen hinreichenden Anhaltspunkt dafür böten, dass der Kläger für die geschuldete Tätigkeit nicht beziehungsweise nicht uneingeschränkt leistungsfähig gewesen sei. Zudem dürften keine allzu hohen Anforderungen an die Beklagte gestellt werden, denn grundsätzlich verfügen Arbeitgeber*Innen regelmäßig nicht über nähere Informationen zum Gesundheitszustand ihrer Arbeitnehmer*Innen! Die Beklagte habe vorgetragen, der Kläger leide an einer höhergradigen Schlafapnoe, Tagesübermüdung, konzentrativen Defiziten, Anpassungsstörungen, einer mittelgradigen depressiven Episode und einer degenerativen Wirbelsäulenerkrankung – mithin ausreichende Indizien für eine Leistungsunfähigkeit des Klägers. Und warum hat das Bundesarbeitsgericht die Sache dann zur erneuten Verhandlung an das Landesarbeitsgericht verwiesen, statt selbst zu entscheiden? Der Kläger hatte die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbunden, der Medizinische Dienst Berlin-Brandenburg hatte den Kläger zudem als leistungsfähig eingeschätzt. Dem Kläger war es daher gelungen, die Indizien der Beklagten wiederum so weit zu erschüttern, dass es erforderlich gewesen wäre, durch Erhebung der angebotenen Beweise zu klären, ob er aus objektiver Sicht leistungsfähig war oder nicht. Dies hatte das Landesarbeitsgericht bislang aber
versäumt:
„Für die erforderliche Beweisaufnahme dürfte es angezeigt sein, zunächst die in die Behandlung und Begutachtung des Klägers einbezogenen Ärzte als sachverständige Zeugen nicht nur (…) schriftlich, sondern persönlich zu vernehmen. Kann sich das Landesarbeitsgericht danach noch keine abschließende Überzeugung (…) über die Leistungsfähigkeit des Klägers (…) bilden, liegt die Einholung eines
Sachverständigengutachtens nahe.“
Für Arbeitgeber*Innen ist es nahezu unmöglich, die Arbeits- beziehungsweise Leistungs(un)fähigkeit der eigenen Arbeitnehmer*Innen zu beweisen. Das ist aber nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gar nicht notwendig. Es genügt vielmehr, ausreichende Indizien vorzutragen. Dann ist es an der Arbeitnehmerseite, diese Indizien zu entkräften. Hierzu dürfte es in der Regel erforderlich sein, dass die behandelnden Mediziner*Innen von ihrer Schweigepflicht entbunden werden. Etwas, zu dem noch lange nicht jeder bereit ist. Und selbst wenn die Bereitschaft hierzu auf der Arbeitnehmerseite besteht, ist das Ergebnis der Beweisaufnahme noch immer ungewiss! Arbeitgeber*Innen raten wir daher immer zu überprüfen, ob Indizien oder gar Beweise für Zweifel vorliegen:
Bei ausreichenden Indizien, die gegen eine ärztlich attestierte Arbeitsunfähigkeit sprechen, ist die Entgelt(fort)zahlung einzustellen. Sollte sich die betroffenen Arbeitnehmer*Innen hiergegen wehren, müsste diese auf Zahlung klagen. Liegen ausreichende Indizien, die gegen eine Arbeitsunfähigkeit sprechen, vor, ist es dann an den Arbeitnehmer*Innen, die bestehenden Zweifel auszuräumen.
Sofern ausreichende Indizien gegen die Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer*Innen sprechen, ist die Beschäftigung und die Lohnzahlung einzustellen.
Es muss jeweils genau geprüft werden, ob die Indizien ausreichen. Ansonsten besteht die Gefahr, am Ende des Rechtsstreits Annahmeverzugslohn beziehungsweise Entgeltfortzahlung zu zahlen. Bei der Nachzahlung der Entgeltfortzahlung ist das wirtschaftliche Risiko erfahrungsgemäß überschaubar. Häufig bestehen die in Zweifel gezogenen Arbeitsunfähigkeiten nur einige Tage oder diese entwickeln sich in eine Dauererkrankung, sodass nach sechs Wochen der Krankengeldbezug eintritt.
Je nach Sachverhalt können auch weitere arbeitsrechtliche Schritte bis hin zu einer Kündigung in Erwägung gezogen werden. Bei einem Vortäuschen der Arbeitsunfähigkeit ist an eine verhaltensbedingte Kündigung zu denken. Hingegen ist bei einer dauerhaften Leistungsunfähigkeit eine krankheitsbedingte Kündigung denkbar.
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